Natur | Transformation | Werden - Einführung
Dr. Hanneke Heinemann
Skulpturen, Malereien, Monotypien
Kunstverein Ingelheim, 22. Mai 2016, 11:30 Uhr
In einem Zeitungsinterview sagt Amador Vallina einen Satz, der besonders für seine Skulpturen kennzeichnend ist: „Den Impuls bekomme ich immer von einer Materie, die schon tot ist, also schon einen Prozess hinter sich gebracht hat.“
Ist nicht der Stein, den der Bildhauer bearbeitet, tote Materie, ebenso die Pigmente und andere Arbeitsmaterialien, die Maler und Grafiker verwenden? – Die Aussagekraft des Satzes liegt auf „schon tot“. – Die von Amador Vallina verwendeten Materialien haben demnach ein Leben hinter sich. Bei Muscheln, Schnecken, Vögel- und Säugetierskeletten ist der Zusammenhang zum Lebewesen recht klar. Aber auch Pflanzen tragen Merkmale des Lebens in sich. Fast alle hier verwendeten Fundstücke waren vorher lebendig. Nach ihrem Tod bzw. ihrem Absterben sind sie in Auflösungs- und Umwandlungs-prozesse übergegangen. Durch ein vielfältiges Einwirken der Natur haben die Materialien Spuren bekommen und werden erst so für den Künstler interessant. Eine Form, ein Detail oder die noch in der Materie zu spürende Geschichte des Fundstückes drängen den Künstler zu einer neuen Form. Durch seine Arbeit des Neu-Zusammensetzens entstehen sehr lebendige Figuren, die wie Tiere, Fabelwesen oder auch wie große Pflanzen anmuten. Dank der Neuschöpfung des Künstlers beginnen die Figuren zu leben, obwohl sie aus toter Materie entstanden sind. – Bei meinem ersten Besuch bei Amador Vallina in Wörrstadt hatte ich sogar den Eindruck, dass die Figuren mich anschauen würden. Ein Blick ist neben Atem und Bewegen vielleicht der stärkste Ausdruck von Leben überhaupt, der einem direkt berührt. Erst später ist mir aufgefallen, dass die Figuren gar keine Augen haben, wenn überhaupt dann leere Augenhöhlen. Die Figur „Irni“ ist die einzige in dieser Ausstellung, die Augen hat – kleine Glasaugen übrigens, wie sie Amador Vallina jahrelang für seinen Marionettenfiguren verwendet hat.
In der Skulptur „La Gaviota“, der „Möwe“ von 2009, erkennt man recht schnell die Figur eines Vogels. Der Körper wird sowohl mit pflanzlichen als auch mit tierischen Fundstücken gebildet: Das Hinterteil ist ein Stück einer Palme, die Flügel sind Blätter einer Kaktusfeige, der Kopf unverkennbar ein Vogelschädel und die Füße Teile von Kieferknochen. Den lebendigen Ausdruck erhält die Figur besonders durch die Haltung: Mit den schräg geöffneten Flügeln scheint die Möwe gerade zu landen oder beim Laufen die Balance zu halten, mit dem seitlich gewendeten Kopf und dem geöffneten Schnabel scheint sie Neugierde auszudrücken. Man meint, die Bewegung des Körpers zu spüren.
Fast statisch hingegen scheint der „Fisch“ von 2002. Seine Masse und seine Körperform erinnern auch an einen Wal. Eine anatomisch korrekte Einordnung bleibt allerdings vage. Das Luftloch ist überdimensioniert, von den Kokosfasern kann man nicht mit absoluter Sicherheit annehmen, dass sie die Flossen kennzeichnen, da sie eher wie außen liegende Kiemen oder Barten aussehen. „El Pez“ – so der spanische Titel – ist ein ruhiger Zeitgenosse, der trotz seiner dunklen vereinheitlichenden Farbigkeit nicht bedrohlich wirkt. In einem dunkleren Raum, in einem Gewölbe oder einer alten Apotheke würde er allerdings etwas Geheimnisvolles oder vielleicht sogar etwas Gruseliges ausstrahlen.
Kann es daran liegen, dass die Umwandlung von toter Materie in etwas Lebendiges schon immer etwas Mystisches und Rätselhaftes besaß? Denken wir beispielsweise an die Legende vom dem aus Lehm geformten Golem, der Kraft und Stärke durch magische Worte erhält oder auch an die Geschichte der aus Leichenteilen zusammengesetzten Kreatur des Doktor Frankenstein, die Leben durch einen Stromstoß erhält.
Amador Vallina greift nicht auf solche Elemente der Schauerromantik zurück. Ihm gelingen vielmehr fantasievolle Fabelfiguren, die eher aus einem Märchen oder aus einem Science-Fiction-Film entstammen könnten. Sie sind im landläufigen Sinn weder schön noch hässlich, regen aber im hohen Maße die Fantasie an. Sie laden Dichter ein, zu jeder der Figuren dieser Ausstellung eine spannende Geschichte zu erzählen.
Kann man Amador Vallina einer Kunstströmung zuordnen? Wohl eher nicht. Mit der Verwendung von Knochen in Verbindung mit plastischem Material steht er allerdings im 20. und 21. Jahrhundert nicht allein da. Bildhauer wie Henry Moore und viele andere haben Naturfundstücke in ihren Werken verarbeitet, Maler wie Anselm Kiefer ebenso. Obwohl Amador Vallina „arme Materialien“ wie Holz verwendete ist er kein Vertreter der „Arte Povera“. Dazu fehlt seiner Kunst der sozial- und institutionskritische Ansatz. Jedoch ist seine Kunst nicht frei von Protest: Mit seinen Figuren, die nicht den gängigen Vorstellungen von Schönheit entsprechen, hält er gegen eine Kunstauffassung, die ins Dekorative und Verharmlosende geht. „Schöne Sachen gibt es genug“, sagte er zu Beginn eines Rundganges durch seine Räumlichkeiten.
Nun, über Schönheit und Ästhetik lässt sich trefflich streiten, die Auffassungen wandeln sich ständig und sind auch individuell sehr unterschiedlich, weil sie im höchsten Maß von persönlicher Erfahrung und Bildung bestimmt sind.
Amador Vallinas Arbeiten sind schön, mit ihrer manchmal recht direkten Naturverbundenheit mitunter nicht sofort zugänglich. Die Verwendung von Skeletten wirkt verständlicherweise auf viele Betrachter und Betrachterinnen abschreckend. Diese Abscheu hat wohl ihren Ursprung darin, dass der Umgang mit Leichen, Kadavern und dem Töten ist zumindest in unserer Kultur weitgehend aus unserer Alltagserfahrung verbannt worden ist. Verstorbene werden mit möglichst wenig Berührung schnell begraben. Dem im Supermarkt gekauften Fleisch sieht man die Herkunft von einem lebenden Tier kaum noch an.
Amador Vallina weicht der Konfrontation mit dem Tod nicht aus. Dadurch, dass er dort, wo es angebracht ist, Skelettteile einbaut, gibt er den Tieren ihre Würde zurück. Nicht nur in den Skulpturen, sondern auch in den Bildern: Die weiße Farbe, mit der er die „Ratte im Mond“ fein überzieht, könnte auch als Leichentuch gedeutet werden, mit dem das Tier zugedeckt wird.
Naturvölker, die noch eine viel engere Verbindung zur Natur, zum Tier und zur Jagd haben, verwenden Tierschädel als Totem und vergegenwärtigen damit die magische Bedeutung von Tieren. Vielleicht sind Amador Vallinas Figuren zu fantasie- und humorvoll, um magisch im Sinne eines Totemtiers zu sein. Magisch sind sie, weil es dem Künstler gelingt, ihnen neues Leben einzuhauchen.
Und wie steht es mit der Schönheit? - Kaum jemand wird die Schönheit der Bilder und Monotypien von Amador Vallina in Zweifel ziehen wollen, auch wenn einige von ihnen zunächst spröde wirken können, sie nicht sofort lesbar sind und sie sich somit einem schnellen Zugang verweigern. Man braucht mitunter etwas Zeit, um sich in die einzelnen Schichten einzusehen.
Der Künstler beginnt die Arbeit an den Bildern so wie die an den Skulpturen, und zwar aus einem Impuls heraus, der aus der Materie kommt, nicht von einer vorgefertigten Idee wie beispielsweise die einer Landschaft oder einer Figur. Die Bilder sind trotz der sprechenden Titel abstrakt angelegt. Auch hier sind die Materialien nicht nur die traditionellen. Der Künstler nutzt Farbe und mischt immer wieder Materialien wie Sand, Asche, Muschelstücke oder getrocknete Blüten bei. Seine Seherfahrung, sein Form- und Farbgefühl leiten ihn bei der Arbeit. Und auch hier entwickelt sich prozesshaft das eine Element aus dem anderen. Sehr häufig hat der Anfang nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem fertigen Bild. Das Blau in „Los Ángeles“ („Die Engel“ von 2004) war zu Beginn der Arbeit viel heller und verdunkelte sich im Laufe des Malvorganges. – Woher kommt nun die Wendung zu den gedämpften Farben? Selbst wenn man in die Psyche eines Menschen hineinblicken könnte, wäre diese Frage wohl kaum zu beantworten. Der Schlüssel liegt in dem Bild selbst. Ein kunstgeübter Mensch erhält seine ästhetische Freude, indem er Formen und Farbauftrag nachvollzieht, die Spannung zwischen den einzelnen Elementen sieht und romantische Elemente entdeckt wie die Liebe zur Unendlichkeit in den Anspielungen an den Kosmos durch runde, lichtumkränzte Gestirne oder in den nebelverhüllten Landschaften mit und ohne Sonnenuntergängen.
Bleibt jedoch weiterhin die Frage nach dem Ursprung der Bilder und Figuren. - An dieser Stelle sei der Verweis auf den griechischen Arzt Hippokrates gestattet, der der Überzeugung war, dass eine Landschaft seine Bewohner und somit auch die Künstler formt. Solch einen Einfluss können wir auch hier nicht ausschließen. Amador Vallina kommt aus Asturien, einer Region Spaniens, die häufig als schroff, rau aber auch majestätisch beschrieben wird. Der Künstler ist in einer Bergwerksstadt aufgewachsen, die sich besonders bei Regen im wahrsten Sinne des Wortes schwarz verfärbt. Solche Erinnerungen könnten ihn zur Verdunkelung der Bilder geführt haben.
Dieser Hinweis soll nun nicht bedeuten, dass man in jeder Schattierung und jedem schwärzlichen Farbton Kohlestaub hineininterpretiert. Vielmehr sollte man versuchen, möglichst unbefangen an die Malereien heranzugehen, um in den Werken zunächst die eigenen Bilder und Vorstellungen zu entdecken, die nicht immer mit denen des Künstlers übereinstimmen werden. Entdeckt man jedoch keine im Titel angegebenen Figuren und Phänomene oder gar etwas anderes, so ist dies durchaus erwünscht. Jeder Betrachter und jede Betrachterin ist eingeladen, dem eigenen Sehen zu vertrauen.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch die kleinen Unikate ans Herz liegen, es sind kleine meist sehr grafisch gehaltene Miniaturen, die kleine Welten abbilden können. Amador Vallina spielt hier mit der Materialität seiner Farben, Tuschen und weiteren Beimischungen und schafft damit Blätter mit ganzen Universen, aber auch Ausschnitten aus dem Mikrokosmos und noch vieles mehr. Durch die Farben und die verschiedenen Texturen sind sie sehr abwechslungsreich und zeigen die gesamte Bandbreite seine grafischen Könnens. Und außerdem haben sie eine Größe, für die man in jeder Wohnung noch ein kleines Plätzchen finden könnte, damit sie dort ihren Zauber ausbreiten können.
© Dr. Hanneke Heinemann, Kunsthistorikerin