TraumHaft - Vernissage
Einführung, Dr. Otto Martin
Heute nacht träumte mir, ich hielt
den Mond in der Hand,
wie eine große, gelbe Kegelkugel,
und schob ihn ins Land,
als gält es alle Neune.
Er warf einen Wald um, eine alte Scheune,
zwei Kirchen mitsamt den Küstern, o weh,
und rollte in die See.
Heute nacht träumte mir, ich warf
den Mond ins Meer.
Die Fische all erschraken, und die Wellen
spritzten umher
und löschten alle Sterne.
Und eine Stimme, ganz aus der Ferne,
schalt: Wer pustet mir mein Licht aus?
Jetzt ist’s dunkel im Haus.
Heute nacht träumte mir, es war
rabenfinster rings.
Da kam was leise auf mich zugegangen,
wie auf Zehen ging’s.
Da wollt ich mich verstecken,
stolperte über den Wald, über die Scheune vor Schrecken,
über die Kirchen mitsamt den Küstern, o weh,
und fiel in die See.
Heute nacht träumte mir, ich sei
der Mond im Meer.
Die Fische alle glotzten und standen
im Kreis umher.
So lag ich seit Jahren,
sah über mich hoch die Schiffe fahren
und dacht, wenn wer jetzt über Bord sich biegt
und sieht, wer hier liegt
zwischen Schollen und Flundern,
wie wird der sich wundern!
Sehr geehrter Herr Schömbs,
liebe Künstlerinnen und Künstler,
liebe Mitglieder und Freunde des Kunstvereins,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
die gerade gehörten Verse >Närrische Träume< von Gustav Falke (? 1900 verfasst) führen mittenrein ins >Mutterland der Phantasie< (wie Jean Paul den Traum genannt hat) … sie führen in
Traumwelten, die als Steinbruch für Bilder, für Bildideen dienen: >Jeder von uns kann in seinen nächtlichen Träumen ein Surrealist, jeder ein Picasso, ein Dalí sein …< (aber was bleibt
davon im Wachzustand?) In den nächtlichen Abenteuern dagegen kann sich >Traumhaftes< - als formschöne, glattgebügelte Bilder – ebenso ereignen wie sich >Albtraumhaftes< als Obsession
festsetzen kann, dabei die Grenzen zwischen Traum und Wachsein einreißend … Es sind dies die Antipoden eines Spannungsbogens, der sich hier trefflich mit Bildbeispielen besetzen lässt:
Vorab:
Das Thema bot reichlich Anregungspotential … das jeweilige künstlerische Temperament war gefragt … Bildhaftigkeit, metaphorische Wandelbarkeit >das Leben ein Traum?< Fragmentarisches waren
die Bausteine für die künstlerische Umsetzung… Frappierend zunächst – so man sich einen ersten Überblick verschaffen will – frappierend – das breite, weitgesteckte Feld der
Realisierungstechniken: Sie finden neben einem reichen Angebot an Malerei/auch die Zeichnung/die Druckgraphik/Fotografie digital)/Skulptur/Plastik/ Objekt-kunst und vielfältige Mischtechniken…
bereits ein erster Hinweis auf intensive Auseinandersetzung!
In Albträumen geborene Visionen/in einem Ausdrucksstil der Angst Gefasstes begegnet – hier pars pro toto genannt: etwa bei Christine Rosenthals Albtraum einer drohenden Kriegszerstörung von Mainz mit dem Plakatgedicht von Inge Reitz-Sbrezny ergänzt … (Sie kennen es alle!) Es beginnt: >Wie mei Großmutter e Kind war, war Krieg. Wie mei Mutter e Kind war, war Krieg. Wie ich e Kind war, war Krieg. Wie mei Kind e Kind war, war kän Krieg. Vielleicht hält’s noch e bißje! …< eine apokalyptische Darstellung … eine Schlacht zwischen Gut und Bös ist entbrannt … Ausgang offen … eine detailbesessene, akribische Darstellung!
- Aus den Caprichos von Francisco Goya gestiegen/aus seinem >>Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer<< inspiriert scheinen die Arbeiten von Hans-Martin Zöllner und Amador Vallina >>Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder<< Goya-Zitat von einer der Grafiken … Die Plastik von Vallina hat etwas von solch einem ins Dreidimensionale gewachsenen Ungeheuer! Und in Zöllners >Albtrauam< steckt ein Bildecho der genannten Grafik-Serie.
- Man stutzt hier zunächst bei manch abstrakt-informeller Gestaltung: Was hat das nur mit dem Thema >TraumHaft< zu tun (wurde schon halblaut gefragt)? Bleibt alles im Beliebig-Ausdeutbaren? Oder gibt es hier eine Parallel-Welt zum Anfassbar-Gegenständlichen? Die >Traumbilder< von Johanna Hackenberg führen in eine solche Parallelwelt, in eine faszinierende Farbwelt, in ein Farbensprühen pur … die Künstlerin notiert zu ihrem Bild: >>Sinneseindrücke, Gedanken, Vorstellungen – verdrängt und wieder präsent, bruchstückhaft – irgendwie verhaftet – andersartig, unwirklich oder real, - jedoch niemals wirklich zugänglich<<. Kurz: so fassbar wie oft die Träume: flüchtig – transitorisch … eine farbenfreudige Traumwelt im dichten Farbnebel …
- Dann das Werk von Christian Reinmann >Ausblick</>Traumhaft – HaftTraum< genannt – d.h.: es ist der Blick eines Inhaftierten auf die Innenhof-Fassade – Rauputz pur/Minimalismus pur
im Vordergrund: Materialästhetik pur – im Kopf dann zündet die formidable Bildidee …
Sigrid Lehr baut 143 Einzel-Zellen aus Papier sperrt/resp. klebt Fragmente von Aquarellen in diese Architektur und nennt sie >traumhafte Einzelhaft< - einige Bilder sind in Wachs
eingegossen – es sind diejenigen, die lebenslänglich träumen dürfen ... abstrakt und zugleich inhaltsschwer – zum Schmunzeln und zum Nachdenken zugleich. Die Gruppe der informell-arbeitenden
Mitglieder - so Karin Huth, Cornelia Hesse, Irina Claus, Christa Heinlein und Sieglinde Ludes finden Farb- und Formwege zur Kreation aus dem Nicht-Anschaulichen … es ist ein Gestaltungsprozess
parallel zur erfahrbaren Umwelt … ein Schöpfen/ein >Sich-Stimulieren< aus dem Urgrund der >Farb- und Formfaszination< das Bild ist ein selbstständiger Gegenstand – hier im
Interpretationsfeld >TraumHaft< lädt es sich mit Ideen auf … Es funktioniert über diverse Assoziationen im Kopf … Dies die Arbeit des Betrachters.
Zu einer Sonderposition führt der Titel >Manifester Trauminhalt< von Hans Dieter Junker, diese eindrucksvolle Gouache, ganz im surrealistischen Temperament – rührt letztlich an Sigmund
Freud… rührt an dem, was von einem Traum auch nach dem Erwachen in Erinnerung bleibt, also manifest bleibt… die Traumdeutung an der Oberfläche setzt ein, von wo aus bei Bedarf eine Tiefen-Analyse
erfolgen kann. Ein Bildmotiv zum Thema, das alle vordergründigen Bildanlässe übersteigt…
- Kunststücke im Bereich realistischer – oder besser gegenstandsnaher Malerei dominieren eindeutig den ersten Blick, eine Bildpräsenz, die sich bis hin zu trompe l’oeil-ähnlichen Effekten
verdichtet, zu augentäuschenden Bildwirkungen führt:
So das Porträt OPERA-Dramaturg von Ying Lin-Sill. Jeder Quadratzentimeter Leinwand bietet dem Auge ein Mal-Erlebnis in samtener Farbigkeit… eine >traumhafte Gesellschaft< Titel der
Weltliteratur in warmer Honigfarbigkeit à la trocknender Druckfahnen sind wiedergegeben … eher >Schmutztitel< für Druckwerke neben einem Stapel >Bibliothek< … klassische Literatur ist
angesagt … erfüllt, erschöpft, ermattet – der Dramaturg – ob der Fülle an Verantwortung? Verantwortungsdruck und Chance zugleich … Eine wunderbare Lichtquelle vermittelt changierende
Transparenz-Dichten der sicher handgeschöpften Papiere: Madame Dubarry/Iphigenie/Elektra/Orest/Die Ermordung des Marat von Jacques Louis David – traumhafte Welt des Dramaturgen.
Daneben: Armgeste vor dramatischen Wolkenformationen – eine Traumszenerie wie aus dem Bilderbuch – sparsam, deutungsoffen… Sie inszeniert einen Kampf zwischen HELL und DUNKEL – ein Ausgreifen ins
Leere? Ins Dahinter? Bei diesem Bild von Dagmar Ropertz (erstmals dabei) O.T. kann wohl fast ein Jeder So-oder Ähnlich-Erlebtes beisteuern (?).
O.T. auch Jutta Plath, die nahezu im Stile des magischen Realismus >Traumhaftes< in einer Dingrealität von großer Suggestivkraft formuliert.
Susanne Mull verortet Traumhaftes auf mehreren Ebenen – die rheinhessische Landschaft steht zugleich für eine Weinlage >Ingelheimer Kirchenstück< … ein atmosphärisch zartes Pastell, das
Lust auf mehr macht! [erstmals dabei!]
Wie schön, sich über >Fräulein Elses neuen Hut< zu freuen (Sie finden die mit Farbe gefasste Holzskulptur als point de vue im Schalterraum … wie geschaffen für den edlen blauen Lichtrahmen,
der dort immer zu sehen ist … Karin Waldmanns Kettensäge-Arbeit lockt in die Ausstellung … ist Türöffner/beste Botschafterin für alles Weitere …
Wie noch nie gesehen: >Hochzeit< im gebrauchten Outfit - will sagen: objets trouvés formen das Traumpaar von Alice Stäglich/ihre Objektkunst: immer wieder überraschend – immer wieder neu
kreativ … in unglaublich vielfältigem Formen-Vokabular… Man steht, stutzt und ist schnell überzeugt…
Wie wichtig auf Barbara Hünemohrs mehrsinnigen Titel zu verweisen: >Frauenträume ohne Haftung<. Drei Drahtskulpturen in verführerischer Form …Schuhformen/ Designer-Stücke für Frauenfüße in
stark begrenzter Haltbarkeit … gefertigt in phantasievoller Drahtführung … fragile >Alltagsobjekte< des gehobenen Anspruchs! Zum Sinnen und Genießen …
Plastiken von Renate Ott und Petra Schattenberg akzentuieren hier nicht nur den Raum … >Traumwächter< und >die Begegnung mit dir selbst< sie laden ein zur Vertiefung/laden ein zur
Selbst-Reflexion…
Doch bei dieser Fülle der hier gezeigten Exponate ist daran zu erinnern: pars pro toto ist angesagt, bevor man sich noch weiter auf einzelne Exponate einlässt…
Ich möchte daher einen herzlichen Dank an alle aussprechen, die sich für diese Gemeinschaftsausstellung beworben haben und damit nicht zuletzt erneut die Vitalität des Kunstvereins unter Beweis
gestellt haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte zum Abschluss noch einige Anmerkungen zum weiteren Rahmen dieser Ausstellungsreihe.
Die jährlichen Mitglieder-Ausstellungen stehen stets unter einem bestimmten Motto – geboren aus der Idee, jedem die Chance zu geben, in der ureigenen Bildsprache zu einem gemeinsamen Thema
Stellung zu beziehen und damit einen durchgehenden Leitgedanken zu bespielen. Nicht das >Lieblingswerk< eines Künstlers oder ähnliches mehr war und ist als Exponat angestrebt, sondern die
Bereitschaft, sich der aktuellen Auseinandersetzung mit einem Thema zu stellen, das die verbindende Klammer der jeweiligen Ausstellung herstellen sollte. Trotz mancher thematischer Unschärfen -
ist es ein vielgefragtes Projekt, nunmehr schon über 12 Jahre hinweg. Dies bietet jedem Kunstvereins-Mitglied die Chance, mit einem Werk an die Öffentlichkeit zu treten, ohne gleich eine
Einzelausstellung bestücken zu müssen.
Alle Präsentationen fanden in der MVB-Galerie (Fischtor Christuskirche) bzw. dann im MVB-Forum (seit 2004) statt. Allein die elfte Ausstellung war dem Eisenturm vorbehalten (wegen Umbau
hier).
Nahezu 70 Bewerbungen lagen in diesem Jahr der dreiköpfigen Jury vor – Dank an die Jury-Mitglieder Alexander Jackowski und Dietmar Gross für die geleistete Entscheidungs-Arbeit … gleichzeitig
bitte ich aber auch um Verständnis bei denjenigen, die in diesem Jahr nicht zum Zuge gekommen sind … bleiben Sie dran – im nächsten Jahr steht sicher wieder ein Thema an.
Um die kleine Statistik rund zu machen: ca. ein Viertel der Exponate stammt von Mitgliedern, die erstmals dabei sind! 42 Mitglieder präsentieren ihre Exponate: Von A wie Altenkirch bis Z wie
Zöllner spannt sich einmal mehr der Bogen.
Dank an unser Mitglied Winfried Hosseus, der den Themenvorschlag >Trauma</>Traumata< zuerst formulierte/sozusagen einen Titel in den Ring warf, woraus dann federführend über Dietmar
Gross schließlich die Formulierung >TraumHaft< entstand… Hierfür und für den Aufbau der Ausstellung herzlichen Dank an den Kurator der Ausstellung, Dietmar Gross. Dank vor allem auch an das
Aufbau-Team, das in unglaublich kurzer Zeit dieses Gesamtbild entstehen ließ.
Dank an Martin Breuer.
Unsere Mitglieder-Ausstellung ist ein erster Höhepunkt im Kunstvereins-Jahr 2012 – und dies im MVB-Forum. Der zweite Höhepunkt wird die Ausstellung und Preisverleihung im August – wiederum im
Forum sein >Utopia < … der 25. Mainzer Kunstpreis Eisenturm wird verliehen
– Sponsor: MVB
Unser Ausstellungsprogramm/Festprogramm des Kunstvereins Eisenturm im Mai:
Karin NOLL >Lebensfreude pur< im Gesundheitszentrum in Gonsenheim
Bildhauerzeichnungen von 8 Künstlern im Eisenturm mit internationaler Beteiligung
Ende Mai – 5-Jahres-Feier in der BuKi-Werkstatt/Mombacher Straße (26. Mai)
kein schlechtes Plateau, das der KEM zu bieten hat, der damit zur kulturellen Szene der Landeshauptstadt einen beachtlichen Akzent beisteuert und dies wird von einem ehrenamtlich geführten
Kunstverein bewerkstelligt! Der 40. Geburtstag des Vereins steht bald an – nicht zu vergessen: über mehrere Jahrzehnte hinweg besteht nun bereits eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem
Kunstverein Eisenturm und der Mainzer Volksbank – und dies vertrauensvoll in aller Verlässlichkeit. Damit sich die Kooperation noch weiter verfestigt – noch stabiler wird, möchte ich im Namen des
Vorstandes zur Wiedereröffnung des Forums unser >Stabiles Buch< als Geschenk überreichen … [Es ist eine der Jahresgaben vom vergangenen Jahr!]
Vielen Dank für Ihre Geduld!
Dr. Otto Martin, Vorsitzender Kunstverein Eisenturm Mainz e.V.
Rede zur Ausstellungseröffnung >TraumHaft< zwischen Traum und Obsession
am 10. Mai 2012 im MVB-Forum Mainz
Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Otto Martin